Was ein introvertierter Mensch innerlich weiss, aber nie zu sagen wagt

Immer wieder tragen mir Seminarteilnehmer folgendes vor: 

"Mein Vorgesetzter möchte, dass ich in der Organisation sicht- und hörbarer werde. Hier im Seminar soll ich mir ein paar Tipps abholen.“

Ich habe ein großes Verständnis für introvertierte Menschen, habe ich schließlich auch große Teile Introvertiertheit in mir. Wer mich eher flüchtig kennt, sieht das vielleicht zunächst nicht.

Warum habe ich Empathie für Introvertierte? Sie sind es nämlich, die geräuschlos und ohne große Theatralik ein Team zum Laufen bringen und am Funktionieren halten. Mit „Funktionieren“ meine ich: effiziente Effektivität. Geräuscharm.

Die Introvertierten sind häufig die, die zufrieden sind, wenn sie sich für die Sache des Teams im Stillen und ohne Aufhebens engagieren können. Sie müssen häufig nicht diejenigen sein, die an vorderster Front stehen, die die Dinge steuern. Die „Sicht- und Hörbarkeit“ ist häufig nicht Teil ihres Selbstverständnisses.

Dieses eher reservierte Verhalten veranlasst manche Führungskräfte, ihrem Wunsch nach mehr Ausdrucksstärke dem Mitarbeiter als Feedback anzubieten. 

An solchen Führungskräften stelle ich diese Fragen:

  • Kann sich Dein Mitarbeiter die Aneignung dieses neue Verhaltensrepertoire realistich vorstellen?
  • Hätte Dein Mitarbeiter Freude daran, neue, eher extrovertierte Verhaltensweisen zuzulegen (identifiziert er sich damit)?
  • Teilt Dein Mitarbeiter von sich aus die Einsicht der Notwendigkeit dieser Verhaltensänderung?
  • Könnte es sein, dass Dein Mitarbeiter durch eine Überdehnung seiner Entwicklungsenergie ineffektiv wird?
  • Könnte es sein, dass Dein Mitarbeiter am effektivsten ist, wie er gerade ist?
  • Wenn Dein Mitarbeiter präsentiert oder ein Meeting moderiert, gelingt es ihm, sich Gehör zu verschaffen und sein Publikum auf seine einige, ruhige Art zu begeistern und zu engagieren?
  • Wie wäre es, Dein Mitarbeiter gewinnt Sicht- und Hörbarkeit durch andere Wege und Mittel, z.B. durch Fachbeiträge in Blogs, oder durch interne oder externe Publikationen (z.B. Fachbeiträge, Lehreinheiten) oder durch das interne Herausstellen seiner Leistung?
  • Könnte es sein, dass Deine Erwartungen am Mitarbeiter eine Projektion Deiner eigenen Schwächen oder Ängste ist?
  •  Könnte es sein, dass Deine Erwartungen an Deinen Mitarbeiter ihn verunsichern und, dass er dadurch ineffektiv wird?
  • Könnte es sein, dass Deine Erwartungshaltung Deinen Mitarbeiter demotiviert?

 Ich hatte neulich das Vergnügen, das Seminarthema Rhetorik und Gesprächsführung mit Menschen verschiedenster Verhaltenspräferenzen zu trainieren. Unter anderem hatte ich einen Teilnehmer -, den ich hier anonymisiert "Karlheinz" nenne - der vom Verhaltenstyp eher introvertiert zu sein schien. Hier meine Zeilen an ihn nach zwei Tage Seminar.


Lieber Karlheinz,

Dich habe ich in den ersten Stunden unseres Seminars als eher zurückhaltend und reserviert erlebt, eine Beobachtung, die Du mir dann auch selber bestätigt hast mit der Aussage, Du seist eher reserviert.

Als es am ersten Tag darum ging, dass Du dieses Seminar zwar durchaus aus eigenem Antrieb besuchst, erwähntest Du, dass Dein Chef Dir das Feedback gegeben hat, dass Du an Deiner Präsenz und Deiner Sicht- bzw. Hörbarkeit innerhalb der Organisation arbeiten solltest. Als Vertreter der eher "ruhigeren“ Mitarbeiter solltest Du Dir ein paar Anregungen aus dem Seminar mitbringen.

Mir gefiel Deine Einstellung zum Seminar, nämlich Deine Bereitschaft, an Dir selbst zu arbeiten und im Zuge dessen auch durchaus mutige Schritten zu wagen.

Am zweiten Tag des Seminars gab ich Euch allen Gelegenheit zu einer kurzen Rede oder Präsentation (ohne PowerPoint). Die Gruppe (und ich) zeigte sich gleich bei der ersten Übung sehr beeindruckt, wie Du die Anregungen gleich rhetorisch und körpersprachlich umgesetzt hast.  

Am Nachmittag des zweiten Tages gab ich Euch eine simple Struktur, anhand dessen Ihr eine zweite Rede (oder Präsentation mit Flipchart oder Pinnwand) halten solltet.

Erneut erntest Du eine sehr positive Resonanz auf Deine Rede. Der Grundtenor des Gruppenfeedbacks war, dass Du Dich abermals im Vergleich zum Vormittag gesteigert hast. Mir rutschte eine etwas umgangssprachliche Zusammenfassung meiner Beobachtung über die Zunge, dass ich Deine Rede "granatengut“ fand.

Was fand ich bei Dir denn "granatengut“?

Du hast meine Anregungen aufgenommen und deutlich beobachtbar umgesetzt:

Körpersprache

Gesicht: freundlich und dem Anlass angemessen einladend. Du hast ein für mich gewinnendes Lächeln gehabt.

Augenkontakt: einen ruhigen, stetigen Blick zu einzelnen Teilnehmer. Jeder Blickkontakt sollte zwischen 2 – 4 Sekunden andauern, so dass sich die Person spezifisch angesprochen und gemeint fühlt. Das ist Dir gut gelungen.

Hände: natürliche Gesten, die Dein Gesagtes unterstreichen, Hände grundsätzlich (Ausnahmen bestätigen diese Regel) oberhalb der Gürtellinie, offene, einladende Händflächen.

Stand: schulterbreit auseinander sollten die Füße einen festen Kontakt zum Boden haben, ohne dabei jedoch verwurzelt zu werden.

Raum: den Raum auf der Bühne bewusst für eine natürliche Bewegung verwenden. Wenn Du jemanden per Augenkontakt „abholtest“, dann hast Du Dich auch in dessen Richtung bewegt.

Struktur

Meine Einladung an Euch war es, von einer einzigen Zielsetzung für Eure Rede auszugehen. Diese Zielsetzung sollte in einem vollständigen Satz in der Einleitung der Präsentation oder der Rede für das Publikum wortwörtlich zitiert werden. Diese Absichtserklärung gibt dem Zuhörer Orientierung und lenkt die Aufmerksamkeit gleich auf das, worum es Dir, dem Redner, im Kern eigentlich geht.

Aus der Zielsetzung heraus kann man als Redner dann 3 logische Aspekte entwickeln, die die Redeabsicht des Präsentators präzisiert. Diese 3 "Kapitel“ dienen der Sichtbarmachung der Logik Deines Arguments, sie geben Deiner Rede eine Taktung und bieten dem Zuhörer eine einfache Formel an, die er/sie im Nachgang nicht so schnell vergisst.

Ich war begeistert, wie schnell Du die Ratio hinter meinen Anregungen begriffen und sodann entsprechend umgesetzt hast, wodurch Du meine volle Aufmerksamkeit von Beginn Deiner Rede an in Beschlag nahmst.

Du bist ein gutes Beispiel dafür, dass man als Mensch mit teilweise introvertierten Verhaltenspräferenzen trotzdem so präsentieren kann, dass man Dir die Introversion gar nicht erst vermutet.

Meine Zusammenfassung für das, was ich bei Dir beobachtet habe, war „granatengut“. Das meinte ich so und es war mir in dem Augenblick auch ein Ausdruck der Zuversicht, dass Du Deine Fähigkeiten weiterentwickeln wirst. Dann wirst Du garantiert die Sicht- und Hörbarkeit erlangen, die Dir gebührt.

Liebe Grüße und alles Gute bei der Umsetzung,

 Christiaan